Leben wir nun in einer Wissensgesellschaft?

Essay

Gesellschaft

Eine Gesellschaft im soziologischen Sinn bezeichnet das organisierte Zusammenleben einer Gruppe von Menschen, im ökonomischen Sinn den Zusammenschluss von Menschen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks und im staatsrechtlichen Sinn die dem Staat gegenüberstehenden Bürger. Nicht nur etymologisch (gisellio bedeutet Saalgenoss) sondern auch im Alltagsgebrauch (high society) steht das Wort Gesellschaft allerdings nicht in erster Linie für das die Menschen Vereinende, sondern für die Abgrenzung gegenüber den anderen, den Außenstehenden. Marx betrachtet die Gesellschaft nicht als Summe der Individuen, sondern als Summe der Verbindungen unter ihnen.  

 

Wissen

Seit Platon („Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung“) wurde unzählige Male versucht, den Begriff Wissen zu definieren. Unterschieden wird die Form der Verfügbarkeit (implizit oder explizit sowie semantisch oder prozedural), die Form der Herkunft (angeboren oder erworben) und die Form des Schlusses (logisch oder empirisch). Russel geht näher auf letzteren Ansatz ein und postuliert intuitives Wissen als Summe der Bewusstseins- und Sinneswahrnehmungen und davon logisch – aber auch psychologisch – abgeleitetes Wissen, das letztlich durch Reflexion entsteht. Vermutlich ist eine exakte Definition von Wissen nicht möglich, aber auch nicht notwendig (Wittgenstein).

 

Das Gesellschaftsmodell

Das Gesellschaftsmodell wird nach dem für die darin umschlossenen Menschen wichtigsten Aspekt definiert. Der erste Zusammenschluss einer Gruppe von Individuen, die in der Altsteinzeit als Jäger und Sammler nomadisierte kann als Hordengesellschaft bezeichnet werden. Charakteristisch sind eine ungefähre Gleichverteilung des Vermögens, wenig Eigentumsbeziehungen, keine oder flache Hierarchien und eine ausgeprägte Gegenseitigkeit der sozialen Interaktion. Nach der Sesshaftwerdung (neolithische Revolution) begann die 12000 Jahre andauernde Agrargesellschaft, einhergehend mit der An- bzw. Erschaffung von materiellen Gütern und später dem Feudalismus als Vorstufe zum Kapitalismus. Im 19. Jahrhundert begann die Umwandlung in die Industriegesellschaft (industrielle Revolution), die durch eine stark beschleunigte Entwicklung von Technik, Produktivität und Wissenschaften tiefgreifende soziologische Änderungen mit sich brachte, insbesondere die Trennung von Wohn- und Arbeitsort, Zuzug in Städte und die gesellschaftsklassliche Unterteilung in kapitalistische Unternehmer und lohnabhängige Proletarier. Automatisierung, Produktivitätssteigerung und Abwanderung der Produktion in („billige“) Drittländer führten zu einem Freiwerden von Arbeitskräften. Zudem wurden nicht zu den Kernkompetenzen zählende Unternehmensbereiche (zum Beispiel Instandhaltung oder IT) sowie Lagerung und Verteilung von Gütern an spezialisierte Unternehmen ausgelagert. Die beachtliche private Kaufkraft stellt die dritte Säule einer neuen Gesellschaftsordnung dar: die Dienstleistungsgesellschaft. Sie ist charakterisiert durch weiter voranschreitende Arbeitsteilung, Erhöhung des Stellenwerts sozialer Kompetenzen, Verbreitung von Kommunikation und Informationstechnologie und dem Bedarf an Vermittlung und Steuerung.

Alle modernen Gesellschaften haben diese als Drei-Sektoren-Hypothese (Rohstoffgewinnung, Rohstoffverarbeitung und Dienstleistung) bezeichnete Entwicklung durchlaufen, jedoch existieren alle Gesellschaftsmodelle parallel.

 

Daten, Informationen und Wissen

Der Weg zu Wissen führt über Daten und deren Strukturierung als Information.

Aus der Sicht von Konzernen und Staaten leben wir in einer Datengesellschaft, wo nicht das Wissen des Individuums selbst wichtig ist, sondern dessen beobachtetes Bewegungs-, Surf- oder Kaufverhalten. Durch Kombination, Auswertung, Strukturierung, Zusammenfassung und Schlussfolgerung aus den so gewonnenen Daten entsteht Information. Diese stellt allerdings keine Abbildung der Realität dar sondern erzeugt eine Parallelwelt. Eine Parallelwelt, die keine virtuelle Welt ist, sondern den Anspruch erhebt, die eigentlich wahre und präzise Welt zu sein. Diese entspricht allerdings weder der Definition von Wissen noch jener von Gesellschaft.

Information ist somit ein Datenbestandteil, der beim Beobachter durch beobachterabhängige Relevanz einen Unterschied darstellt. Bezieht man Wissen auf eine Person, setzt es einen selbstreflektierenden Bewusstseinszustand voraus. Es ist also in einen Erfahrungskontext integrierte Information. In einer allgemeineren Dimension ist Wissen die Gesamtheit der organisierten und vernetzten Informationen.

 

Scientia est potentia

Eine Wissensgesellschaft muss sich über Wissen als wichtigsten Aspekt des Zusammen- und Arbeitslebens definieren.

Scientia est potentia wird gemeinhin als „Wissen ist Macht“ übersetzt, wobei hier das Wort Macht leicht negativ konnotiert ist. Macht im Sinne von Herrschaft hat sich neben einer physischen Überlegenheit auch immer auf einen Wissensvorsprung gestützt. Ohne einer überlegenen Schifffahrtstechnik wären die westeuropäischen Länder keine Kolonialmächte geworden. Macht im Sinne von Potential schafft neue Handlungsmöglichkeiten.

Stehr bezeichnet Wissen als Fähigkeit zum sozialen Handeln. Die Wissenschaft (definiert als Erweiterung des Wissens durch Forschung) ist nicht mehr nur Zugangsmöglichkeit zum Geheimnis der Welt, sondern repräsentiert das Werden einer Welt, in der Wissen in allen Bereichen zunehmend Grundlage und Richtschnur des menschlichen Handelns wird, also auch Organisationsprinzip und Problemquelle. Marx hat dies als Verwissenschaftlichung bezeichnet.

In der Arbeitswelt ist Arbeitskraft untrennbar von Arbeitsleistung, deswegen ist ein Arbeiter im Kapitalismus nicht frei (Marx). Nach Polanyi sind Boden und Arbeitskraft fiktive Waren, da sie nicht zum Verkaufszweck produziert werden („die Produktion von Arbeitskraft obliegt Familien und anderen sozialen Strukturen“). Lyotard sieht Wissen (im Unterschied zur Arbeitskraft) nicht mehr an eine Person gebunden, sondern als Ware in einen Lieferanten- und Bezieherprozess. Man strebe danach, dem Wissen eine neue Form zu geben, die Wertform: „Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen. Es hört auf sein eigener Zweck zu sein“.

Wissen entsteht immer in einem kulturellen Rahmen (Bildungseinrichtungen, Familie). Die menschliche Reproduktion als kulturelle Reproduktion stellt somit auch eine Reproduktion von Wissen dar.

Unbestreitbar ist, dass Wissen derzeit einen hohen Stellenwert in vielen Bereichen des Lebens genießt. Die Grundlage jedes Dienstleistungsbetriebs ist das Handlungswissen im jeweiligen Spezialbereich und das des sozialen Handelns jedes einzelnen, jene von Bildungseinrichtung die Vermittlung des Erwerbs von Wissen. Der technologische Fortschritt, basierend auf der umfassenden Vernetzung sowie der einfachen Verbreitung von und Zugänglichkeit zu Information bedingt die Zersplitterung von Fachgebieten in viele Subfächer und die Entstehung völlig neuer Forschungs- und Anwendungsfelder im Sinne einer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung.

Der Begriff der Gesellschaft schließt den Ausschluss nicht dazu gehöriger Menschen mit ein (oder man bezeichnet sie als „Randgruppen“). Die Gefahr einer Wissensgesellschaft ist mehr denn je die Ausbildung von Eliten, die Wissen in einem bestimmten Kreis sammeln und weitergeben, wo Wissen  nicht mehr als Gemeingut, sondern als Ware gilt.

Wir leben in einer Informationsgesellschaft (im Kontext eines umfangreichen fragmentierten Wissens) und meiner Meinung nach auch in einer Wissensgesellschaft. Allerdings ersetzt dieser Begriff nicht die aktuelle oder eine zukünftige globale oder allgemeine Gesellschaftsorganisation, sondern erweitert sie. Dies hat mit dem Anfang der Agrargesellschaft begonnen. Wissen hat immer eine Rolle im menschlichen Zusammenleben gespielt, allerdings war die Wichtigkeit noch nie für eine so breite Masse gegeben, wie es derzeit der Fall ist. 

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